DIE ORBITALE SPHÄRE ALS AUFENTHALTSWAHRSCHEINLICHKEIT DES MENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS
Über die Arbeiten von Sophie Lindner
„Das Sternbild zeichnet sich […] durch eine grundsätzliche Ambivalenz aus, die sich zwischen den Polen von wissenschaftlicher Abstraktion und bildhafter Konkretion bewegt. Es läßt das Grundproblem des Bildes, sein Schwanken zwischen Bilderglaube und Wissenschaft, plastisch hervortreten.“ 1
Unsere Bilder von den Sternen verdeutlichen nach Cornelia Zumbusch auf besondere Weise den
niemals in seiner Gänze zu bestimmenden Charakter von bildlichen Veranschaulichungen.
Sie bezieht sich dabei auf Aby Warburg, der in seiner Notizsammlung Symbolismus als
Umfangsbestimmung um 1900 das Symbol - das künstlerische Symbol im Besonderen - als
„Denkraum zwischen Magie und Logik“ beschreibt und in der Entwicklung vom Symbol hin zu
seinem aufgeklärten „Optimierungsprodukt“, dem Zeichen, eine nahezu naturgesetzliche
Entwicklung des menschlichen Bewusstseins zu erkennen glaubt.
Die horoskopierende Vorhersage wurde durch den wissenschaftlichen Blick abgelöst, die ihr
folgende teleskopierende Weitsicht suggeriert eine leicht verdauliche Überschaubarkeit der unvorstellbaren Größen und Kräfte stellaren Ausmaßes. Dennoch blieben beide Bereiche, der
magische sowie der logische, in unseren Sternbildern verschwistert.
Die orbitale Sphäre ist ein Raum der momentanen Balance zwischen widerstrebenden Kräften. Sie
wurde durch die Luft- und Raumfahrt als Beobachtungsstandort erobert und vermengte den Blick
hinauf zu den Sternen mit dem Blick hinunter auf unsere Erde. Dieser in seiner Qualitäteinzigartige Übergangsbereich vollführt ein Ringen von Schwerkraft und Fliehkraft, das der
ambivalenten Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz von Bildgegenständen ähnelt. Von hier aus
flieht der menschliche Geist in zweierlei Richtungen: unendlich in die Ferne des Kosmos und
unendlich nah an unseren Planeten heran.
Der materiell angereicherte und dadurch sichtbare Orbit des Saturn, den wir als Ring erkennen,
wird im Werk von Sophie Lindner als Ort eines Denkens etabliert, welches die kosmischen
Imaginationswinkel aus ihrem Lot hebt und monopolisierte Sichtweisen stellarer Phänomene nicht
bestehen lässt. Weil sie die scheinbare und scharf gestellte Objektivität der photographischen und
datenbasierten Visualisierungen von Himmelskörpern herausfordert, durchschreibt die
bildnerische Praxis von Sophie Lindner die zeichenhafte Lesbarkeit unserer Sternbilder. Seit
mehreren Jahren versetzt sie den Orbit des Saturn in andere anschauliche Zustände, bis er als
bleischwer rinnende Masse von den Balkonen eines Plattenbau-Blocks hängt oder als plastischer
Schatten über gepflasterte Steine flirrt. Die variationsfähige Symbolhaftigkeit der künstlerischen
Arbeit wird ihr zur Beobachtungsgrundlage einer bemerkenswerten Neuerung unseres
Planetensystems:
Der Materialisierung des Erdorbits.
An der Schwelle zwischen Erde und Weltall sammelt sich menschliche Projektionsmasse und sie
füllt die orbitale Sphäre mit vorwiegend metallischer Stofflichkeit. Von besitzergreifenden
Visualisierungs-, Kommunikations- und Orientierungstechniken durchsetzt, verdichtet sich nun ein
Bereich mit Kleinsatelliten, der bis dahin einen unbesetzten Projektionsraum der Imagination
darstellte - für den Einzelnen und die Einzelne sowie für die Menschen als Gemeinschaft
gleichermaßen. Wenn die Imagination dabei als abgewandte Seite einer orbitanten Ökonomie zum
Schattendasein gezwungen wird, müssen diesen Eroberungsstrategien Veranschaulichungen
entgegengesetzt werden, die wie die Werke von Sophie Lindner etablierte Sichtweisen schräg
schneiden, durchqueren und überschreiben.
Mit diesen Veranschaulichungen denken wir den Ort der Imagination als Mellow Mediator. Denn
es ist weder der Erdmittelpunkt, noch ist es der ferne Horizont kosmischer Weite, an denen sich
unser Bewusstsein zur Zeit vermittelt - es ist der Orbit.
Martin Wiesinger, März 2020